Ethik und Kinderchirurgie

- Teil 1 -

Von: Prof. em. Dr. Werner Fritz, ehem. Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Eine formale Aus- und Weiterbildung in medizinethischen Fragen sollte auch in der Weiterbildung zum Kinderchirurgen eine angemessene Rolle spielen (M. L. ROBIN and Donna A. CANIANO, 1998), denn fast noch immer werden die Begriffe Ethik und Moral und ihre Adjektivformen mehr oder weniger intuitiv gebraucht, ohne sich der philosophischen Relevanz dieser Termini bewusst zu sein.

Was also ist Ethik?
Bei PLATON (427 – 347 v. Chr.) inhaltlich schon anklingend, hat ARISTOTELES (384 – 322 v. Chr.) die Ethik als philosophische Disziplin begründet. Sie ist wesentlicher Bestandteil seiner praktischen Philosophie (Ethik, Ökonomie, Politik), die er von der theoretischen Philosophie (Logik, Physik, Mathematik, Metaphysik) getrennt hat.

Ethik ist ein von ihm geprägtes Kunstwort, das sich herleitet von „Ethos", das der griechischen Alltagssprache entstammt und gewöhnlicher Wohnort, Gewohnheit, Brauch, Sitte bedeutet und semantisch weitgehend korrespondiert mit dem lateinischen „mos", von dem sich der Begriff Moral herleitet.

Nach S. ANDERSON (2000) gibt es keinen präzisen Unterschied zwischen Ethos-Ethik und Moral. Am deutlichsten werde dies am Beispiel des Berufsethos, das gleichzusetzen ist mit Berufsmoral.

Im Verlauf der jüngeren Philosophiegeschichte hat sich jedoch - sehr oft nicht beachtet - ein differenzierender Bedeutungsinhalt entwickelt. So sind die Begriffe Ethik und ethisch - ganz in Übereinstimmung mit ARISTOTELES - ausschließlich der philosophischen Wissenschaft vom richtigen und sittlichen Handeln vorbehalten.

Ethik ist nicht selber eine Moral - oder gar Supermoral -, sondern sie reflektiert über Moral. Ethik lehrt nicht fertige Urteile, sondern lehrt urteilen.

Gegenstand der Ethik ist also moralisches Handeln und Urteilen (A. PIEPER, 2003).

Reflexionen über Ethik selbst, ihre eigenen Voraussetzungen und Möglichkeiten, ist Gegenstand der Metaethik (B. IRRGANG, 1998).

Moral steht für die in einer kleineren Gruppe (Migranten) oder Gesellschaften geltenden Regeln und Normen. Moralisch verhält sich ein Mensch, der so handelt, wie es die Gesellschaft erwartet. Der Terminus Moralität beinhaltet das Prinzip aller Moralen.

Nach N. HARTMANN (1962) steht einer Vielzahl von Moralen die Einheit der Ethik gegenüber.

Allerdings hat seit ARISTOTELES die Ethik als Teilgebiet der Philosophie auch selbst eine vielfache Entwicklung und Ausdeutung erfahren.

Einen besonders breiten Raum nimmt dabei die deontologische Ethik KANT's ein, mit dem berühmten kategorischen Imperativ, der sittliches Verhalten gleichsetzt mit Pflichterfüllung.

Das Ergebnis der Handlung spielt bei der sittlichen Bewertung keine Rolle, entscheidend ist die Qualität des Wollens. Es liegt auf der Hand, dass diese Vorstellung von Ethik der Situation des Kinderchirurgen nicht angemessen ist.

Eine hilfreiche Orientierung bietet für den Kinderchirurgen die sogenannte Situationsethik von FLETCHER (1966), die von handlungsutilitaristischen Prinzipien geprägt ist, die ihrerseits wesentlich teleologisch orientiert sind.

Kurz zusammengefasst lauten diese Prinzipien:

  1. Handlungen werden von ihrer Wirkung, von ihren Konsequenzen her erfasst.
  2. Entscheidend für die sittliche, gute Handlung ist die Wertmaximierung, d. h. am Ende soll die Größe der Werte die der Unwerte übersteigen (Nutzenprinzip, rationale Abwägung).
  3. Bei der Abwägung der Gesamtkonsequenz ist die Wertmaximierung in Bezug zu allen Betroffenen zu setzen (Universalisierungsprinzip).
  4. Letzter Werthorizont sind Güter, die in sich wertvoll sind, d. h. in der Kinderchirurgie: das Leben schlechthin, wobei schon hier betont werden muss, dass nach F. MEIßNER (1988), dem Kinderchirurgen, die qualitative Bewertung von Leben: unbehindert, mäßig oder stark behindert, nicht zusteht.

Eine wichtige Ergänzung zur Situationsethik bietet die von H. JONAS (1987) vertretene Ethik der Verantwortung.

Die Kernsätze dieser Ethik lauten:

  • Wo nehme ich Verantwortung wahr?
  • Wem gegenüber bin ich verantwortlich?
  • Wie/wo gestalte ich die Rahmenbedingungen unseres Handelns mit, so dass sie menschlicher werden?
  • Die von FLETCHER als allgemein gültig postulierte Ethiktheorie, ergänzt durch die Maximen der JONAS'schen Ethik der Verantwortung, enthält wesentliche Grundaussagen, die auch für die Medizinethik Gültigkeit haben.

Von der ärztlichen Ethik ausgehend, hat sich unter Einbeziehung aller Beteiligten (Schwestern, Pfleger, Seelsorger, Sozialarbeiter und unter Beachtung und Bewertung vorgegebener Strukturen, z. B. Versicherungswesen) eine umfassende Medizinethik entwickelt.

Nach E. AMELUNG (1992) gibt es drei Grundprobleme der philosophischen Ethik in der Medizin, die von ihm als Fragen formuliert werden.

  1. Die Frage nach dem höchsten Gut.
  2. Die Frage nach dem richtigen Handeln.
  3. Die Fragenach der Freiheit des Willens (Autonomie = Selbstbestimmung).

Die weitgehende Übereinstimmung mit den situationsethischen Postulaten FLETCHER's ist evident.

Medizinethik ist wesentlich eine normative Ethik, die - im Gegensatz zur deskriptiven Ethik, die beschreibt, was ist - beschreibt, was sein soll.

Die von der allgemeinen Medizinethik vorgegebenen Denkmuster betreffen grundsätzlich natürlich auch die Kinderchirurgie, deren vielfältiges Morbiditätsspektrum und vor allem die große Variabilität der Altersgruppen - vom unreifen Frühgeborenen bis zum Adoleszenten - jedoch unterschiedliche Denkansätze erfordern.

Aus diesen beiden Gründen ergibt sich eine Vielzahl ethischer Problemfelder in der Kinderchirurgie, von denen hier nur einige paradigmatisch abgehandelt werden können.

Sich einer medizinisch-faktischen Situation auch ethisch reflektierend zu nähern, erfordert vor allem ethische Sensibilität, die erworben und entwickelt werden muss. Zunächst steht ja die medizinisch-fachliche Seite ganz selbstverständlich im Vordergrund, denn „good ethics begins with good facts" (F. BAYLIS and D. A. CANIANO (1997). Dann aber ist, gewissermaßen in einem zweiten Schritt, die ethische Dimension einer geplanten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme zu überdenken. Dies gilt natürlich ganz besonders in schon medizinisch-fachlichen Problemsituationen.

Aber auch bei „banalen", sogenannten Routineoperationen - z. B. Zirkumzision - ist der ethische Hintergrund zu bedenken, wobei gleichzeitig vor einer unproduktiven ethischen Dauerreflexion gewarnt werden muss.

Ethische Implikationen ergeben sich besonders bei „prophylaktischen" Operationen, die nicht selten in der Kinderchirurgie ausgeführt werden. Ein besonders brisantes Beispiel stellt das hereditäre Schilddrüsenkarzinom dar, wo frühzeitig eine - noch - gesunde Schilddrüse im Kindesalter ektomiert wird, um ein späteres Schilddrüsen-Ca. zu verhindern (H. DRALLE u. a., 2008).

Die operative Ligatur eines persistierend offenen Ductus Botallo an einem für sich selbst und seine Umgebung völlig gesund erscheinenden Kind - um einer kardialen Dekompensation mit Shuntumkehr im frühen Erwachsenenalter vorzubeugen - stellt ein weiteres eindrucksvolles Beispiel dar.

Aber letztlich bekommt sogar die tausendfach praktizierte frühzeitige Herniotomie ihre Berechtigung aus der Vorbeugung gegen eine evtl. sogar lebensbedrohliche Einklemmung.

Ein besonders wichtiges und ethisch problembeladenes Gebiet stellt die Chirurgie im Neugeborenenalter dar, die gleichzeitig ganz wesentlich zum Selbstverständnis der Kinderchirurgie als eigenständige Fachdisziplin beigetragen hat.

Schon in die jetzt hochentwickelte pränatale Diagnostik sollte der Kinderchirurg in engem Kontakt mit dem Geburtshelfer und dem Neonatologen frühzeitig eingezogen werden.

Bei der Beratung der Mutter, ob bei einem schwer fehlgebildeten Kind ein Abbruch - aus mütterlicher Indikation, da es die embryopathische Indikation seit 1995 nicht mehr gibt - vorgenommen oder doch die Austragung erfolgen sollte, kann der Kinderchirurg einen wichtigen, nahezu unverzichtbaren Beitrag leisten. Mit dem Hinweis auf die erfolgreiche postnatale Korrektur zahlreicher, auch schwerwiegender Fehlbildungen (Ösophagusatresie, Omphalocele, Gastroschisis, schwere Harnentleerungsstörungen u. a.) vor der Etablierung der pränatalen Diagnostik, kann der Mutter eine wesentliche Entscheidungshilfe gegeben werden.

Über die jetzt gängigen Verfahren der pränatalen Diagnostik hinaus (Ultraschall, Amniozentese mit Bestimmung des α-Fetoproteins, Zottenbiopsie) sollte der Kinderchirurg sich auch informieren über die prädiktiv-medizinischen Aspekte der - in Deutschland noch verbotenen, aber
in 20 europäischen Ländern erlaubten - Präimplantationsdiagnostik, da sich mit der PID ethische Grundsatzfragen ergeben.

Der Neugeborenenchirurgie vorangestellt, erscheint es notwendig, kurz auf die, vor allem von HARRISON (1991) tierexperimentell entwickelte und auch schon klinisch praktizierte intrauterine Chirurgie einzugehen. Bei grundsätzlich gut nachvollziehbarer Logik des Gedankens durch pränatale Korrektur - z. B. einer Zwerchfellhernie/pleuroperitonealer Prolaps mit ihrer Negativwirkung auf die Lungenentwicklung - entgegen zu wirken, ist doch die durchaus gegebene Gefährdung der Mutter und auch des Feten selbst ethisch so überaus bedenklich, dass die Verfolgung dieser therapeutischen Strategie derzeit nicht akzeptabel
ist.

Ende Teil 1

Werner Fritz
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