Prof. Hugo Sauer
Kinderschicksale/Mein Leben als Kinderchirurg

Hugo Sauer gibt Einblicke in Schicksale der Kriegs- und Nachkriegszeit und in die Entwicklung europäischer Kinderchirurgie. Wie ist das auf 397 Seiten möglich? Der Autor bedient sich Methoden, die das Buch spannend und lesenswert machen, beispielsweise der stilvolle Briefwechsel mit seiner Frau und die Schilderung, wie er und „seine Generation und seine Zeit ein Maß an Weltgeschichte zugeteilt erhielten“, sowie die umfangreiche Korrespondenz mit hoch gestellten Persönlichkeiten kinderchirurgischer Provenienz wie Rehbein, Meißner, Kasai. Mit der Darstellung der Entwicklung der Kinderchirurgie in Graz und jener von Kinderschicksalen darf das Buch als historische Hinterlassenschaft für jetzige und kommende Kinderchirurgengenerationen den Untertitel „Kinderchirurgisches Zeitgeschehen in Mitteleuropa“ beanspruchen. Die folgende Inhaltsangabe kann das belegen.

Vorstudienzeit

Univ.-Prof. Dr. Hugo Sauer, am 9. Oktober 1928 in Graz geboren, ging in Andritz, einem Vorort von Graz, zur Schule. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 bekam er als 15-jähriger dessen Härte zu spüren, er wurde Luftwaffenhelfer. „Wenn Bomben vorbeifielen, hörte man ein Rauschen!“ Ein älterer Soldat „beruhigte“, „wenn man dieses Geräusch hört, treffen sie uns nicht mehr, viel gefährlicher sind die Bomben, die man nicht hört.“ Nach Entlassung als Luftwaffenhelfer musste er zum Volkssturm. Dann endlich, am  8. Mai 1945, das Kriegsende.

Studienzeit in Graz

Studienbeginn 1946/47 mit achtzehn Jahren. Chirurg wollte er werden. Das verlangt beste anatomische Kenntnisse. Und so wurde er Demonstrator am Anatomischen Institut, dessen Leiter ein Schüler von Julius Tandler war, Kinderchirurgen von der „Tandler-Theorie“ her bekannt. Auf dem Seziersaal war es geschehen, der junge Demonstrator hatte sich in eine blonde Studentin verliebt. Darüber schreibt er:  „Hätte ich vorausschauen können, so hätte ich gesehen, dass wir in 54 Jahren mit unseren vier Kindern und sechs Enkelkindern die Goldene Hochzeit feiern würden.“ Ein stilvoller Briefwechsel setzte ein. Am 10. Juni 1953 endete die Studienzeit mit der Promotion in der Aula der Universität.

Chirurg – Kinderchirurg

Sieben Wochen nach der Promotion begann das Berufsleben, zunächst am Grazer Pharmakologischen Institut, das den kommenden Wissenschaftler besonders prägte. 1954 Wechsel zum Unfallkrankenhaus in Graz, am 1. August 1957 Beginn der Ausbildung zum Chirurgen. Ein weites Feld einer reichen Tätigkeit nicht nur beruflicher, sondern auch menschlicher Erfahrungen breitete sich aus. Nach Abschluss der Facharztausbildung kamen Karrieregedanken auf. Es verschlug ihn nach Innsbruck zu Prof. Huber, einer international anerkannten Kapazität. Dort begann am 1. September 1963 sein Dienst. Eines Tages griff das Schicksal ein. Zwei Sätze des Chefvertreters: „Hört’s Burschen, einer von euch muss sich melden und für ein Jahr nach Linz zu Hartl gehen, um Kinderchirurg zu werden. Wenn sich keiner meldet, werde ich einen bestimmen.“ Statt Gefäßchirurgie „nun also Kinderchirurgie“. Seine Lehrer wurden Hartl in Linz, ab 1.1.1966 Rehbein in Bremen. Aus diesen Schulen trug er die Kinderchirurgie nach Graz. 1973 wurde die Stelle eines Primarius für Kinderchirurgie in Graz ausgeschrieben. Die Bedingung dafür erfüllte Hugo Sauer. Doch vor seiner Bewerbung besichtigte er die Abteilung, in der er tätig werden sollte, und fand „mittelalterliche Zustände“. Er stellte Bedingungen! Mit Energie und Tatkraft „mischte er verkrustete bürokratische Strukturen auf“, initiierte den Neubau der Kinderchirurgie in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kinderklinik, wurde mit der ersten Lehrkanzel Österreichs für Kinderchirurgie betraut und prägte das Fach in Lehre und Forschung. Ein modernes Kinderzentrum in Graz war entstanden. Er wurde zum Vorsitzenden der österreichischen Kinderchirurgen gewählt, betrieb die Anerkennung des Spezialfaches Kinderchirurgie, gründete den Verein „Große schützen Kleine“, gründete den Dreiländerkongress und hielt im Oktober 1978 das erste Südeuropäische Symposium für Kinderchirurgie in Graz ab, stellte Kontakte her zu Kinderchirurgen in europäischen Ländern, in den USA, Japan und Kuweit. Kinderchirurgen der ehemaligen DDR verhalf er durch Einladungen mit Kostenübernahmen zu Teilnahmen an wissenschaftlichen internationalen Veranstaltungen in Österreich. 1996 in das Ehrenamt des Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Chirurgie gewählt, das in gleicher Wertschätzung der Kinderchirurgie in Deutschland, dem Kinderchirurgen Prof. Dr. Jörg Fuchs, Tübingen, von der DGCH zum 1. Juli 2017 übertragen wurde, ist Prof. Sauer einer der letzten in der Reihe verdienstvoller Kinderchirurgen, der mit dem Begriff „Urgestein“ geehrt werden kann. Er war Dekan. 1982 fand in Österreich die erste Lebertransplantation bei einem Kind in Graz statt. Mit dem Buch „Checkliste Kinderchirurgie“, dem Standardwerk „Das verletzte Kind“, hat sich Prof. Sauer seinen Platz in der kinderchirurgischen Literatur erarbeitet. Zu nennen ist auch die Einführung der intestinalen Schienung zur Ileusprophylaxe.

Viele Einzelschicksale, an denen Prof. Sauer auch Jahre nach der Behandlung Anteil nahm, bilden den zweiten Teil der Autobiografie. Seine Maxime: „Dass wichtiger als alles Wissen, neben der Motivation, der Sinn für Verantwortung ist“ und, „dass jedem Arzt klar sein muss, dass seine Verantwortung für den Patienten nicht nach der Operation endet, nicht mit Ende der Dienstzeit.“ Prof. Sauers Kritik greift in die Jetztzeit: „Ein Krankenhaus kann nicht wie ein Industriegebiet geregelt werden.“ Der Autor beschließt seine Biografie mit einem Brief, den der Kinderarzt Janusz Korczak am 4. August 1942 schrieb, bevor er mit zweihundert Kindern des Warschauer Ghettos in den Tod ging. Beklemmend, das zu lesen. Nachdem die letzte Zeile des Buches dem Auge entgleitet, legt man es bereichert und nachdenklich aus der Hand.

Kurt Gdanietz